Mit ‘Freiheit’ getaggte Beiträge

William James Herschel, Enkel des berühmten Komponisten und Astronomen, nutzte in Indien als Kolonialbeamter seit 1858 Fingerprints, um Dokumente zu sichern. In Argentinien wurde 1892 erstmals eine Frau anhand ihrer Fingerabdrücke als Mörderin überführt. 1903 wandte ein sächsischer Kriminalbeamter daktyloskopische Methoden erstmals in Deutschland an. Im September 1904 kommt in Lauterberg ein junger Mann auf seltsame Art zu Tode – und ein junger Polizist würde sich gern einen Namen bei der Aufklärung machen, aber intelligentere Frauen hinterlassen keine Fingerabdrücke, wenn sie töten.

„Was war mit dem jungen Mothes? Hast du Luder ihm schöne Augen gemacht?“
„Welcher Mothes?“
„Stell dich nicht dumm. Der Mothes Willi aus der Rüsse.“ Die Niednerin hatte die Stimme erhoben, Sophies Augen wanderten über den Tisch, sie griff nach einem Kanten, obwohl sie längst satt war von Schmalzbrot und Fassgurken, dazu seit Wochen zum Vesper nichts anderes gesehen hatte.
„Wieso sollte ich mich mit dem abgeben, diesem stinkenden Bock? Er ist hinter jedem Weibsbild her.“
„Er hat einen Brief an dich geschrieben.“
„Ich habe keinen bekommen.“ Sophie biss ab, mampfte mit Nachdruck. Die Tante stützte die Unterarme auf den Tisch, beugte sich weit hinüber, suchte ihre Augen.
„Freilich nicht, er liegt ja bei der Polizei. Und du weißt sehr gut, wie der Mothes Willi gestorben ist, schon weil die Lisbeth ihn gefunden hat. Was soll das unschuldige Getue? Was war mit dir und Mothes?“
„Er hat mir halt nachgestellt, ich habe ihn abblitzen lassen. Weiß ich, wem er alles Briefe schreibt…geschrieben hat.“

Die Tante schlug mit der Hand auf den Tisch. „Da hör einer die Frechheit! ‚Mich flieht der Schlaf jede Nacht, denk‘ ich nur der feuerroten Haare meiner Sophie‘, das steht da geschrieben, so hat es mir Lehrer Riebeseel von der Mühltorschule berichtet. Die Polizei hat nach der rothaarigen Sophie gefragt, er hat ‘s mir insgeheim erzählt. Und weiter: dass der Mothes kaum einen geraden Satz schreiben konnte, an dem Brief sei eigentlich nur die Unterschrift von ihm gewesen, das Ganze aber wie abgeschrieben: ‚Ich will nicht mehr leben, kann ich dir, meine über alles Geliebte, nicht nahe sein!‘ Wie kommt ein Depp, der ‚hinter jedem Weibsbild her‘ sein soll, auf derart romantischen Schwulst?“

Sophie sprang auf und blitzte ihre Tante an: „Und wie kommst du dazu, mich zu verdächtigen? Ein jeder Bösewicht, jede Hure könnte sich mit einem dreckigen Mothes dazu verstehen, mir etwas Übles anzuhängen! Gerade weil er nicht ans Ziel kam! ‚Brütet nur im Nest der Neid, falsch Zeugnis schlüpft nach jeder Seit‘‘ – ist das nicht einer deiner Sprüche? Ich kenne ein Dutzend Leute, die mich gern am Pranger sähen, aber du suchst das Übel lieber bei mir!“ Sie riss Mantel und Schal vom Haken, knallte die Tür hinter sich zu. Die Niednerin seufzte. „Wenn ‘s doch nur so wäre. Wenn wenigstens Gras über die Geschichte wüchse und der Mothes Willi seinen Frieden fände.“

Bei der Polizeibehörde der Kreisstadt hatte man sich lange nicht einigen können, wie der Fall Wihelm Mothes zu bewerten war. Der Achtzehnjährige wies gleich zwei tödliche Verletzungen auf: Das Genick war durch den Sturz vom Felsen am Domberg gebrochen, in seiner Brust steckte obendrein ein Ehrendolch des Thüringischen Husaren-Regiments Nr. 12. Wilhelms Vater hatte dort gedient, war wegen besonderen Mutes in der Schlacht bei Königgrätz ausgezeichnet worden. Den Dolch hatte er als den seinen erkannt. Auf den Tod des jüngsten seiner vier Söhne reagierte er zwiespältig. Bei der Leichenschau verhüllte er mit deutlichen Anzeichen des Schmerzes sein Gesicht, merkte im Hinausgehen jedoch an, es habe wohl leider so kommen müssen, er wisse nur nicht, wodurch er diese Strafe Gottes verdient habe.

Der Vorschrift gemäß wurde der Leichnam alsbald bestattet. Mit Rücksicht auf den tadellosen Ruf der Familie erklärte die Behörde Wilhelms Tod für einen Unfall, obwohl der Fund eines Liebesbriefes in seiner Rocktasche auf Selbstmord deutete. Einen ehrgeizigen jungen Polizisten, der sich erbot, den Griff des Messers nach einem unlängst in Dresden neu eingeführten Verfahren auf Fingerabdrücke zu untersuchen, wies der Vater ab. Die allfällige Täterschaft eines Dritten mittels einer solchen neumodischen „Daktyloskopie“ feststellen zu wollen, sei unnötig, das mache seinen Sohn nicht wieder lebendig. Der alte Mothes gab also den Dolch seinem unglücklichen Sohn mit ins Grab, äußerte dabei den Wunsch, dass seine beiden ältesten, die beim Preußischen Heer dienten, sowie Kurt Georg, der als ein tüchtiger Waffenschmied bei Richard Bornmüller & Co. angestellt war, ihr Leben glücklicher und in Ehren zubringen mögen.

Weder die im „Lauterberger Boten“ veröffentlichte Stellungnahme der Behörden noch Ermahnungen von der Kanzel und in Schulen verhinderten gleichwohl, dass der Volksmund den Porphyrquader am Domberg fortan „Willmothsfelsen“ nannte; wie manch anderen Platz im Städtchen umrankten ihn Schauergeschichten. Willys Sturz sei ein Kampf mit einem Rivalen wegen der rothaarigen Sophie vorausgegangen, hieß es, und das Mädchen wurde fortan mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Junge Männer sahen in ihr die Beute – womöglich angreifbar, weil von zweifelhaftem Ruf – oder die hexenhafte Verführerin. Sie zu unterwerfen stachelte Gelüste um so heftiger, als Sophie selbstbewusst ihrer Wege ging, auf Komplimente wie Zudringlichkeiten gar nicht oder mit bissigem Kommentar reagierte. Ihre Altersgenossinnen zischelten hinter ihrem Rücken, teils aus Neid, teils aus Bewunderung; ihr letztes Schuljahr erlebte sie als Mittelpunkt und Außenseiterin des Pausenhofes zugleich. Selten gesellten sich Mitschülerinnen ihr zu, einzig „Lissy Einhand“ war stets an ihrer Seite, und das nährte Klatsch und Tratsch im Städtchen bis zum Frühjahr 1906 mit immer neuen Gerüchten.

Sisyphus_by_von_StuckAlbert Camus hat dazu aufgefordert, sich den Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Diese Denkfigur haben viele Philosophen und andere Nachdenkliche aufgegriffen. Vermutlich ist alles darüber gesagt, ganz sicher nicht von allen. Mich interessiert die Geschichte weniger der Interpretation wegen, sondern wegen ihrer unstreitigen Modernität. Die Nachricht vom gewaltigen Volumen der Bundesagentur für Arbeit regte wieder einmal die Frage an, ob unsere Gesellschaft wirklich zum Ziel gesetzt hat, möglichst alle – ob sie wollen oder nicht – zumindest materiell sicherzustellen. Am besten als AnGestellte. Diese Existenzform kommt dem Bild des Sisyphos nahe: Es gibt eine Arbeit, die ihrem Wesen nach fremdbestimmt ist, d.h. sie schließt genau denjenigen davon aus, über ihr Ziel – ob Produkt oder Dienstleistung – zu entscheiden, der sie tut. Ob Mann oder Frau: Nicht die Strafe der Götter zwingt sie, sondern ein Vertrag, mit dem sie sich an Ziele binden, über die das Gestell entscheidet. Das können Unternehmen sein oder Behörden, Parteien oder NGO. Egal wo: Die Arbeit muss getan werden.

Glück speist sich dabei aus zwei Quellen:

  • Der Moment, in dem der Stein hinabrollt, Sisyphos mit sich allein ist. “Freizeit” nennt das der von Staat und Gesellschaft zugleich befürsorgte und ausgebeutete Angestellte. Heutzutage ist er darin nicht mit Stein und Berg allein, er kann sich dank der Medien vergewissern, wie schlimm die Welt jenseits seines Hügels und Steins ist, sich von anderen Steinerollern begeistern lassen, deren Gesichter ihn aus Werbeclips oder Siegerehrungen aller möglichen Wettbewerbe anstrahlen. Sollte er lieber nur in die Landschaft um den Berg schauen, könnte das heikel sein. 
  • Die Arbeit des Hinaufrollens selbst. Sie mag eintönig erscheinen, aber Sisyphos macht Erfahrungen: mit dem Stein, mit dem Berg, mit sich. Er lernt die Details kennen, findet optimale Wege, wird immer stärker und geschickter – lassen wir das Altern mal außen vor. Möglicherweise fühlt er sich den Siegern der Medienwelt ebenbürtig.

Verlassen wir hier das Bild vom einsamen Mann Sisyphos (oder seiner Schwester – nennen wir sie Sisyphina). Beide schieben Tag für Tag ihren Stein. Die moderne Arbeitswelt gesellt ihnen ein Team zu. Im Sozialismus hieß das Kollektiv. Automatisch geht das Steineschieben mit sozialen Interaktionen einher: Konkurrenzen um den besten Platz am Stein, den günstigsten Weg, seine Füße zu setzen, die beste Aussicht vom Berg. Sisyphina könnte sich verlieben, allerdings nicht unbeobachtet. Sogar echte Zusammenarbeit wäre vorstellbar. Die Leute müssen sich allerdings irgendwann darüber verständigen, was am Ende des Tages wichtig ist: Der Vergleich mit anderen Steinerollern oder der gemeinsame Blick vom Berg, der Fragen aufwerfen könnte, auf die es keine Antwort gibt. An genau diesem Punkt scheiden sich Kollektive – oder Teams – von Freundschaften, Liebe und Vertrauen vom “Geschäft des Lebens”.

Auch deshalb ist der Mythos unsterblich.

Gibraltar

Veröffentlicht: 16. Februar 2015 von immosennewald in Blogosphäre, Literatur, Lyrik, Zukunft
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2013-05-01 13.16.01

In Braunschweig wohne ich am Studentenheim der Technischen Universität, einem Betongebirge, das hier “Affenfelsen” genannt wird. Dort wohnen Studenten aus aller – auch der übelsten – Herren Länder. Diese jungen Menschen sind unsere Zukunft. Ich hoffe, dass Ihnen Bildung, auch Literatur, an einen guten Platz in der Welt hilft, von wo aus sie gestalten können. Die Literatur gehört der Menschheit – wie der Blick auf den Mond den Liebenden. Deshalb habe ich mich vom Volkslied “Guter Mond, du gehst so stille” anregen lassen und – statt Seiten zur “Narbenpuppe” – ein Gedicht verfasst.

 

Kante des Affenfelsens, fremd und kalt
Des Mondes Silberlampe schärft Konturen
Und löst die Angst. Komm in mein Herz, du Licht
Du Hoffnung spendender Gefährte aller Leiden
Du ferner Freund, der alles sieht und weiß
Komm in mein Herz und hilf mir wieder wachen.
Die Nacht ist lang – und ich bin aus dem Gleis.

Ein Augenblick nur ist’s nach Afrika
Wo Hunger, Krieg und Mord die Kinder fressen
Wo Blut den Boden tränkt, kehrt’s Mittelalter wieder
Mit allen Gräueln glorioser Zeiten
Da Religionen sich um Herrschaft streiten
Und Menschen sich im Mob aus Hass vergessen
An jeder Gottheit, Wahrheit – ohne Halt.
Nichts, was mir nicht geschieht: Die Welt wird alt.

Nimm mich mit dir auf deine stillen Bahnen
Trag mich durchs Dunkel: Ich bin sehr allein.
Man sagt, du wärest leblos, ganz aus Stein.
Doch dein Gesicht kann unser Tun nicht fassen.

Gewalt Macht Lust – Du sahst die Türkenkriege
Sahst Gräben, Lager, Bunker, siehst uns hassen
Und Gräuel erschaffen, die wir selbst nicht ahnen.
Die Räume zwischen Meer und Himmel werden eng.
Nichts als ein dünner Film ist unter unseren Füßen.
Die Krume: nährt sie, ausgezehrt von Gier nach Geld
Noch alle Menschenkinder unserer alten Welt?

Sprich, guter Mond: Kommt jetzt die Zeit zu büßen?