Feuer und Flamme

Veröffentlicht: 31. Juli 2020 von publizist in Literatur, Roman, Wissenschaft, Zukunft
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Ludwig Knaus „Feuer im Dorf“ 1854 (Ausschnitt)

An einem Montag Ende August 1906 morgens 4 Uhr weckte Sturmgeläut die Einwohner von Agersdorf am See, der Spritzenwagen rasselte die Gassen entlang zum Anwesen des Majors a. D. Albert von Giebler-Türkenfels, Feuerwehrleute zu Pferde und Fuß stürmten herbei. Aus dem Dach des Gesindehauses am Tor schlugen Flammen. So sehr sich die Männer bemühten, mit der vor wenigen Jahren angeschafften Gebirgsspritze, Handspritzen und Eimern des Brandes Herr zu werden: die ächzenden Sparren und Balken wurden glutrot, unterm Geschrei von Weibern und Kindern brach der Dachstuhl in sich zusammen, Feuergarben und Funken wirbelten empor. Ihr Widerschein flackerte in Elisabeths Augen, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie war totenbleich und klammerte sich an Alberts Arm.
„Sophie, um Gottes willen, wo ist sie nur?“ stammelte sie, „und wo ist die Niednerin?“
„Keine Sorge. Sie ist auf und davon – mit dem unseligen Rudolf. Nur um ihre Tante fürchte ich. Aber das werden wir erst erfahren, wenn jemand ins Haus“, er lachte bitter, „in die Ruine kann. Gestern Abend elf teilte mir der Herr Zeitungsschreiber mit, er wolle sogleich nach Klagenfurt reisen, und deine Freundin werde ihn mit dem Einverständnis der Alten begleiten. Ich wollte dich so spät nicht mehr echauffieren. Sie hat sich nicht einmal verabschiedet.“
„Aber die Tante hätte sie niemals fortgelassen.“
„Das eben beunruhigt mich.“

Der Feuerwehrhauptmann trat zu ihnen, nahm den Helm ab, wischte mit dem Handrücken eine rußige Spur übers Gesicht.
„Herr Major – es tut mir leid. Da war nichts mehr zu retten. Was drinnen passiert ist, wissen wir noch nicht. Wir lassen eine Brandwache hier, die Leute müssen an ihre Arbeit. Vor dem Nachmittag kann niemand hinein.“
„Danke Ihnen Bachner. Sie alle haben mehr als nur ihre Pflicht getan. Wir werden nicht um eine Anzeige bei der Gendarmerie herumkommen. Das hier ging nicht mit rechten Dingen zu, und ich befürchte fast, die alte Frau Niedner ist nicht lebend herausgekommen. Gott befohlen – heute Abend sind wir klüger.“
Der Hauptmann salutierte, rief seine Leute zusammen und regelte das Notwendige, während Albert seine Frau in die Villa zog.
„Versuche noch ein wenig zu schlafen, mindestens zu ruhen. Wir werden später alles besprechen und bedenken, was zu tun ist. Sieh mir bitte meinen Fehler nach. Ich hätte dich doch gestern sogleich unterrichten sollen – tut mir leid.“ Elisabeth schluchzte.
„Es ist meine Schuld. Ich habe Rudolf erst die Idee eingegeben, Sophie zu entführen, nun ist die Tante… O Jesus Christus! Was habe ich getan! Was mag ihr widerfahren sein!“
Albert nahm Elisabeths gestammelte Beichte regungslos auf. Er erzählte ihr nicht, dass er sich selbst noch mehr Schuld gab, denn er hatte nachmittags Rudolf im Streit zu schleuniger Abreise aufgefordert. Einen unverschämten Schnorrer hatte er ihn genannt, einen Tagedieb und Volksverderber. Er möge gefälligst einer ehrlichen Arbeit nachgehen, wie sich das für ein Familienmitglied, sei ’s nur ein angeheiratetes, gezieme. Dass die Sache noch am selben Abend eine solche Wende nehmen könnte, wäre ihm nicht eingefallen. Wenn er freilich von dem Gespräch zu Pferde gewusst hätte… Er seufzte. So gut er sich mit seiner jungen Frau zu verstehen meinte, so weit auseinander lagen seine und ihre Motive. Über ihr Verhältnis zu Rudolf und Sophia hatten sie nicht geredet, sondern einander Pläne und Vorgehensweise verschwiegen.
Elisabeth war schon dabei, Kaffee zu kochen. Der Himmel überm See war wolkenlos, ein strahlender Tag brach an.

Der Operettenkomponist Heinrich Reinhardt um 1900

Der Operettenkomponist Heinrich Reinhardt um 1900

Rudolf Ochsenfurth gestand sich ein, dass er sich leidenschaftlich verliebt hatte, wieder einmal unglücklich, das musste sein Schicksal sein. All die „süßen Mädels“, deren Zuneigung er gewonnen, die er „gehabt“ hatte, waren Episoden geblieben, vergängliche Räusche, verblassende Erinnerungen an hübsche Gesichter, offene Schöße, Seufzer und Düfte, bisweilen Gerüche. Unwillkürlich summte er eine Melodie aus Heinrich Reinhardts Operette „Das süße Mädel“: „So g’wachsen wia’r a Bamerl im schönen Wienerwald…“: Ta tata, tata, tata; ta tata tata taaa… Ein Ohrwurm.

Freilich – so eine war die rote Sophie: jung, hübsch, zugänglich. Hier im Haus des Onkels wagte er nicht, mit ihr anzubandeln. Daheim in Wien wäre sie jagdbares Wild, ein allerliebstes Abenteuer. Aber „Augen wie zwei Sterne, so funkelnd hell und rein… ta tata tata taaa…“ hatte die andere, die Heilige mit der abgesägten Hand, die Unerreichbare. Immer waren unerreichbar, für die er entbrannte, nur anbeten durfte er sie, die Wiener Gesellschaft der Reichen und Schönen blieb ihm verschlossen. Dabei war Elisabeth nicht in deren Sinn schön, bestenfalls apart, von eigenem, rätselhaftem Charme. Seine Gedanken wanderten unfreiwillig zu jenem Moment, als der Chirurg sie mit Skalpell und Knochensäge verunstaltet hatte. Er sah das schmerzverzerrte, verzweifelte Gesicht des Mädchens nach dem Erwachen aus der Betäubung, sah ihre Tränen – und das erregte ihn. Er stellte sich vor, wie sie den Blicken der anderen ausgesetzt war auf dem Schulhof, und wie er sie beschützen würde, erobern, wie er Retter und Ritter sein konnte, ehe sie sich ihm hingab. War er pervers?

Die rote Sophie sollte ihm mehr erzählen, sie kannte ihre Freundin und Dienstherrin von Kind an. Was für ein seltsames Verhältnis. Gewiss war da Neid. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht zuviel Vertraulichkeit nähren, die Alte musste er fernhalten. Schwierig. Aber war es das nicht wert?

***

Englische Karikatur einer rittlings satt im Damensattel Reitenden (ca. 1800)

Englische Karikatur einer rittlings statt im Damensattel Reitenden (ca. 1800)

Dass er mit Elisabeth allein würde ausreiten können, hätte sich Rudolf Ochsenfurth nicht im Traum vorgestellt. Es fiel ihm einfach zu. Albert schlug vor, sein Neffe möge die junge Frau begleiten, um ihn von der Behauptung zu überzeugen, sie sei nicht trotz, sondern wegen ihres Handicaps zu bewundern. Sie überraschte den Verliebten sogleich damit, dass sie sich in Reithosen in den Sattel schwang, nicht etwa in einen Damensattel, sondern in einen englischen, wie er sich seit einigen Jahren in der Dressur durchgesetzt hatte. Beide Pferde waren tadellos, aber Rudolf musste sich an Alberts Militärsattel gewöhnen, der zwar gut gepflegt, aber über 40 Jahre alt war.

Der Weg am Seeufer entlang war breit genug, sie konnten die Rösser Seit‘ an Seite bewegen. Rudolf ließ sich über die Schönheit des Ortes, die Vorzüge des ländlichen Lebens aus, was Elisabeth mit der Frage quittierte, ob und weshalb er lieber Großstädter sei.

„So sehr ich die Ruhe und Naturnähe eures Zuhauses schätze: Wien bietet einmal ganz anderen Komfort, wichtiger noch für mich: eine abwechslungsreiche, vielfältige Gesellschaft und Kultur, ohne die ich einginge wie eine Primel“, erwiderte jener lachend. „Aber von Lauterberg im nasskalten Thüringen hierher zwischen Hochgebirge und Seen umzusiedeln, ist schon ein Glück, nicht wahr? Zumal der Onkel dich auch noch mit nach Fiume und an den Gardasee nimmt, also hast du dich über Mangel an bunter Gesellschaft wohl kaum zu beklagen.“

Elisabeth schwieg eine Weile, entschloss sich dann, behutsam ihr Thema anzuschlagen: „Albert und ich sind sehr glücklich. Dank des familiären Vermögens können wir die Nachteile unserer Invalidität mit vielen Annehmlichkeiten ausgleichen. Sophie und ihre Muhme sorgen nicht nur fürs leibliche Wohl, auch manche Erinnerungen an die gesegnete Kindheit bleibt wach. Sie sind uns beiden eine große Hilfe. Sophie freilich, mit ihrem munteren, neugierigen Naturell, wird es hier mit der Zeit langweilig. Ihr fehlt passende Unterhaltung, die Dorfjugend erscheint ihr – nicht ganz zu Unrecht – fad. Sie mag nicht hochgebildet sein, aber in ihr steckt mehr als eine Dienstmagd oder Bäuerin. Könntest du dir vorstellen, uns behilflich zu sein, wenn wir für sie einen Weg in die Großstadt suchten?“

Komaträume

Veröffentlicht: 29. November 2018 von publizist in Literatur, Poesie, Psychologie, Roman, Wissenschaft, Zukunft
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FolterTheresiana-Hochziehen_cutDie Eingangshalle des Schulgebäudes erinnert an die Krypta eines gotischen Kirchenbaus. Aus wuchtigen, drei Meter hohen Pfeilern schwingt die Decke in ein Kreuzgewölbe, links und rechts öffnen sich Treppenhäuser zu den vier Obergeschossen. In der ersten Etage sind Lehrer- und Direktorenzimmer, dort hinauf schwebt er jetzt, denn er muss seine Feldstudie über soziales Lernen auf Pausenhöfen und Korridoren vom Kollegium genehmigen lassen. Stimmt es zu, darf er zwischen Schulstunden, in versteckten Winkeln, überall wo mit zusammengesteckten Köpfen geflüstert wird, wenn Lehrer nicht hinsehen, Material sammeln. Er wird beschreiben und analysieren, wie Kinder jenseits pädagogischer Mühewaltung Verhaltensmuster einüben, wie sie Rollen aushandeln und durchsetzen, wie sie sich gegenseitig bewerten, bewundern oder schmähen, Grenzen testen, sich unterwerfen oder dominieren.

Das Licht aus den hohen Fenstern scheint durch ihn hindurch, er fühlt sich beschwingt. Sie werden ihn grillen, aber er kann alle Fragebogen fertig vorlegen, amtlich befürwortet: Forschung fürs Gemeinwohl. Auch ans Audiovisuelle ist gedacht: Zum Zwecke der Dokumentation und Evaluation wird er seine Kamera mitbringen dürfen. Persönlichkeitsrechte allerdings sind aufs Strengste zu wahren, kein Bild, kein Ton, kein Datenblatt darf ohne Einverständnis von Schule und Erziehungsberechtigten weitergegeben werden. Er hat an alles gedacht. Hat er?

Plötzlich ist ihm heiß, er hängt unter der Decke im Korridor des ersten Stocks, schaut auf dunkelbraune, beschilderte Türen, aufs vertraute Fliesenmuster, spürt, wie ihm unaufhaltsam die Kamera vom Rücken rutscht, greift nach dem Gurt, aber der schlüpft durch die Finger, ‚Nein!‘, schreit er, die Angst greift ihm in die Eingeweide, schon sieht er das teure Stück zerschellen, da fangen weiße Hände es auf, ein Gesicht hebt sich, ein blondes Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren starrt ihn offenen Mundes an, läuft schreiend weg. Er muss sie aufhalten, diese Göre, aber seine Beine sind aus Blei. Schon ist sie am Ende des Ganges, wo der Wald beginnt, ihm Zweige ins Gesicht greifen und ans Gemächt. Nur ein Zipfel ihres Rocks baumelt, er fasst ihn, eine Katzenpfote fährt Krallen aus, seine Hand blutet. ‚Verfluchte Hexe‘, denkt er, will es schreien‚ aber seine Lippen sind starr. Eine Hand greift in seinen Nacken, dann sitzt er vorm Kollegium.

‚Sie müssen sich schon erklären‘, sagt eine fette Grauhaarige, ‚ehe sie hier Hexen jagen. Patriarchat war gestern. Forschung jenseits von Gendergerechtigkeit und Klassenkampf ist unzulässig.‘

‚Freilich, das steht alles ganz klar in meinem Konzept. Haben sie es denn nicht gelesen?‘

‚Muss ich nicht. Ich sehe Ihnen an, dass Sie lügen. Schon wegen des Geschlechts. Sie sind ein Sexist.‘ Die Runde am langen Tisch beginnt zu murmeln. Jonas spürt feindselige Blicke, er schwebt wieder zur Decke, sieht wie das Kollegium Kaffeebecher ergreift, nach ihm schleudert, schmutzigbraune Brühe ergießt sich. Schon findet er sich zusammengekauert in einem verdreckten Plumpsklo, wischt verzweifelt Exkremente von Händen, Armen, Kleidung. Es stinkt. Eine Hand ist zwischen seinen Beinen.

„Was für einen Haufen Scheiße manche machen, nur mit Flüssigfutter.“ Die Stimme kommt ihm bekannt vor. Gekicher.

„Mit der Frau möchte ich nicht tauschen.“

„Sie könnte ihn bestimmt sterben lassen, aber sie traut sich nicht.“

„Die Ärzte auch nicht. So lange er schnauft, bringt er Geld.“

„Ist ja auch wegen der Wissenschaft.“

Zwischen den Beinen strammt sich ein trockenes Paket, Hände wälzen ihn um, ein schlürfender Schlauch senkt sich schmerzhaft in seinen Hals. Dunkel.

Krüppelhochzeit

Veröffentlicht: 27. November 2018 von immosennewald in Literatur, Psychologie, Roman
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Wappen eines k. u. k. Majors a.D.

Das Wappen eines Kriegshelden

Die Sonne ist schon südlich, der See glänzt, rings um den Ort leuchten grüne Matten. Direkt am Ufer, durch locker gepflanzte Bäume und Hecken gegen Sicht von der Straße geschützt, hat Major a. D. Albert von Giebler-Türkenfels sein Haus bauen lassen, eine Villa im italienischen Stil, mit schmiedeeisernen Verzierungen an Erkern und Balkonen unter weit vorspringendem Dach. In ländlicher Idylle erträgt der Veteran die Qualen seiner Verwundung aus den Balkankriegen. Jahrelang hat ihn seine erste Frau gepflegt, Ursula. Er hatte sich als Artillerieoffizier, sie sich als Krankenschwester auf Schlachtfeldern ausgezeichnet; der Kaiser persönlich hatte sie mit einem Orden geehrt, und die Leute im winzigen Rotau am See nannten sie schon bisweilen „Sankt Ursel“, denn sie betreute nicht nur den kranken Mann, sondern war mit Rat und Hilfe allen gegenüber freigiebig.
Albert war 44, als ihn am 19. August 1878 in der Schlacht von Sarajevo ein Schuss vom Pferd warf. Rippen brachen, sein eigener Degen durchbohrte den Kiefer. Im Lazarett wurde eine Rippe entfernt, Brüche mit silbernen Röhren ummantelt, damit sie halbwegs gerade zusammenwuchsen; die Wunde im Gaumen schloss sich nie mehr ganz, er konnte nur mit Mühe speziell für ihn Zubereitetes essen.
Elisabeth, Sophie und die Niednerin hatten auf der langen Reise per Bahn und Pferdekutsche von der Kommerzienrätin einiges über das Los des reichen Verwandten erfahren. Ursula war 1903 gestorben, die Ehe kinderlos geblieben. Die Familie hatte Alberts Vorschlag einer „Versorgungsehe“ mit der Nichte zweiten Grades zugestimmt. Elisabeth sollte den alten Herrn pflegen, ihn auf Reisen ins kroatische Ferienhaus oder an den Gardasee begleiten und den Haushalt führen, sie würde seine Erbin sein, das Vermögen – von dem ein beachtlicher Teil aus Ursulas Mitgift stammte – bliebe so in der Familie. Die Niednerin und ihre Tochter Sophie sollten zunächst für eine Probezeit als Hausangestellte dienen, hatten die Aussicht, dies in wechselseitigem Einvernehmen auch für längere Zeit zu tun…

Sommertag am Seeufer

Das Lächeln aus der Tiefe

Es verschlug den Frauen den Atem, kaum dass sie der Kutsche entstiegen waren. Haus und Garten am See inmitten der Berge erschienen ihnen paradiesisch; sie folgten dem Bediensteten, nachdem der gemeinsam mit dem Kutscher das Gepäck abgeladen und den leichteren Teil geschultert hatte. Vor der Haustür erwartete sie, auf einen Krückstock gestützt, Albert, der Invalide. Die Nachmittagssonne leuchtete in schütterem weißen Haar, er hielt sich gerade und lächelte ihnen zu…
Die Zeit jagte Elisabeth voran, sie lernte und arbeitete, kaum dass sie zur Besinnung kam, erstaunte alle mit Tempo und Geschick, ungeachtet ihres Handicaps. Die Hochzeit im Frühling des folgenden Jahres wurde zum Dorffest, der alte Mann und die einhändige jugendliche Frau waren hoch angesehen bei allen, die Umgang mit ihnen hatten. Auf St. Ursula folgte die Hl. Elisabeth. Sophie und die Niednerin hingegen blieben Fremde im Ort. Allerlei Gerüchte hefteten sich ihnen an – dass Sophie uneheliches Kind eines Adligen sei, beide wegen unehrenhaften Wandels aus Deutschland haben wegziehen müssen, die Niednerin insgeheim Hexenwerk triebe.

Anfang eines Unglücks

Veröffentlicht: 27. Juni 2018 von immosennewald in Kindheit, Literatur, Roman, Zukunft
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Blackberry flower 02

Schöne Blüte, süße Frucht, böse Stacheln

„Aua!“ Der trockne Brombeerzweig zwischen den Himbeeren war abgeknickt, in Elisabeths Haut steckte ein winziger Splitter. „Hilf mir, Schorsch, ich kriege den verdammten Dorn nicht heraus!“ Der Bruder schob sich durch die Sträucher.
„Das ist ein Stachel, kein Dorn“, dozierte er, „du darfst nicht reiben, sonst setzt er sich fest.“ Er griff die Hand der Zwölfjährigen, spreizte zielsicher die juckende Stelle ein wenig, glitschte einen haarfeinen schwarzen Spreißel heraus und lachte. „Zimperliese. Wenn du so weiter machst, kriegen wir den Eimer nie voll.“ Elisabeth verzog den Mund. Himbeeren und Heidelbeeren hatten ihn gefärbt, wenige bedeckten den Boden des Bechers um ihren Hals.
„Komm, drüben unterm Felsen sind kaum Brombeeren, da geht’s schneller. Vor allem, wenn du nicht alles wegfutterst. Mach’s wie ich: Zehn ins Töpfchen, eine ins Kröpfchen.“
„Fünf, alter Klugscheißer, du bist größer.“ Elisabeth war froh, aus der Julihitze in den Schatten des Felsens zu entwischen. Sie schwitzte, immerhin schützte der lange Rock ihre Beine vor Brennnesseln. Georg hatte ein paarmal die Luft durch die Zähne gezogen, wenn es ihn zwischen kurzer Lederhose und Kniestrümpfen erwischte, ‚zur Strafe fürs Klugscheißen‘, dachte Elisabeth schadenfroh. Es roch nach Sommer in den Buchen, knackend lief die Dürre unter ihren Füßen mit. Selten ließ sich ein Fink hören, die Balz war vorbei.
„Trink einen Schluck.“ Georg schraubte seine Feldflasche auf. Der Pfefferminztee war lauwarm, schmeckte etwas muffig, aber Elisabeths Durst half darüber hinweg. Sie hielt dem Bruder die Flasche hin, ein grünmetallener Brummer landete auf der Öffnung.
„Äks“, sagte Elisabeth, „was für eine eklige Schmeißfliege!“ Georg vertrieb sie mit einer Handbewegung und hob die Nase.
„Hier riecht ’s auch ganz verludert. Schlimmer als deine Fürze.“ Sie schlug nach ihm, er wich der kleinen Hand aus, kam auf dem Hang ins Rutschen, stolperte ein paar Meter hinunter, landete auf dem Hintern. Das war nun für das Schwesterlein ein Hauptspaß, sie schüttete sich aus. „Herrgottsakra“, hörte sie ihn rufen, und „bleib wo du bist!“ Aber da war sie schon leichtfüßig hinunter, stand neben dem Bruder, starrte mit offenem Mund auf den von zahllosen Schmeißfliegen umschwirrten, belagerten Kadaver.
„Das ist kein Tier. Das ist ein Toter“, brachte sie heraus. „Fressen den jetzt die Fliegen?“
„Nein. Die legen nur ihre Eier ab. Komm. Wir müssen erzählen, wo wir ihn gefunden haben.“

William James Herschel, Enkel des berühmten Komponisten und Astronomen, nutzte in Indien als Kolonialbeamter seit 1858 Fingerprints, um Dokumente zu sichern. In Argentinien wurde 1892 erstmals eine Frau anhand ihrer Fingerabdrücke als Mörderin überführt. 1903 wandte ein sächsischer Kriminalbeamter daktyloskopische Methoden erstmals in Deutschland an. Im September 1904 kommt in Lauterberg ein junger Mann auf seltsame Art zu Tode – und ein junger Polizist würde sich gern einen Namen bei der Aufklärung machen, aber intelligentere Frauen hinterlassen keine Fingerabdrücke, wenn sie töten.

„Was war mit dem jungen Mothes? Hast du Luder ihm schöne Augen gemacht?“
„Welcher Mothes?“
„Stell dich nicht dumm. Der Mothes Willi aus der Rüsse.“ Die Niednerin hatte die Stimme erhoben, Sophies Augen wanderten über den Tisch, sie griff nach einem Kanten, obwohl sie längst satt war von Schmalzbrot und Fassgurken, dazu seit Wochen zum Vesper nichts anderes gesehen hatte.
„Wieso sollte ich mich mit dem abgeben, diesem stinkenden Bock? Er ist hinter jedem Weibsbild her.“
„Er hat einen Brief an dich geschrieben.“
„Ich habe keinen bekommen.“ Sophie biss ab, mampfte mit Nachdruck. Die Tante stützte die Unterarme auf den Tisch, beugte sich weit hinüber, suchte ihre Augen.
„Freilich nicht, er liegt ja bei der Polizei. Und du weißt sehr gut, wie der Mothes Willi gestorben ist, schon weil die Lisbeth ihn gefunden hat. Was soll das unschuldige Getue? Was war mit dir und Mothes?“
„Er hat mir halt nachgestellt, ich habe ihn abblitzen lassen. Weiß ich, wem er alles Briefe schreibt…geschrieben hat.“

Die Tante schlug mit der Hand auf den Tisch. „Da hör einer die Frechheit! ‚Mich flieht der Schlaf jede Nacht, denk‘ ich nur der feuerroten Haare meiner Sophie‘, das steht da geschrieben, so hat es mir Lehrer Riebeseel von der Mühltorschule berichtet. Die Polizei hat nach der rothaarigen Sophie gefragt, er hat ‘s mir insgeheim erzählt. Und weiter: dass der Mothes kaum einen geraden Satz schreiben konnte, an dem Brief sei eigentlich nur die Unterschrift von ihm gewesen, das Ganze aber wie abgeschrieben: ‚Ich will nicht mehr leben, kann ich dir, meine über alles Geliebte, nicht nahe sein!‘ Wie kommt ein Depp, der ‚hinter jedem Weibsbild her‘ sein soll, auf derart romantischen Schwulst?“

Sophie sprang auf und blitzte ihre Tante an: „Und wie kommst du dazu, mich zu verdächtigen? Ein jeder Bösewicht, jede Hure könnte sich mit einem dreckigen Mothes dazu verstehen, mir etwas Übles anzuhängen! Gerade weil er nicht ans Ziel kam! ‚Brütet nur im Nest der Neid, falsch Zeugnis schlüpft nach jeder Seit‘‘ – ist das nicht einer deiner Sprüche? Ich kenne ein Dutzend Leute, die mich gern am Pranger sähen, aber du suchst das Übel lieber bei mir!“ Sie riss Mantel und Schal vom Haken, knallte die Tür hinter sich zu. Die Niednerin seufzte. „Wenn ‘s doch nur so wäre. Wenn wenigstens Gras über die Geschichte wüchse und der Mothes Willi seinen Frieden fände.“

Bei der Polizeibehörde der Kreisstadt hatte man sich lange nicht einigen können, wie der Fall Wihelm Mothes zu bewerten war. Der Achtzehnjährige wies gleich zwei tödliche Verletzungen auf: Das Genick war durch den Sturz vom Felsen am Domberg gebrochen, in seiner Brust steckte obendrein ein Ehrendolch des Thüringischen Husaren-Regiments Nr. 12. Wilhelms Vater hatte dort gedient, war wegen besonderen Mutes in der Schlacht bei Königgrätz ausgezeichnet worden. Den Dolch hatte er als den seinen erkannt. Auf den Tod des jüngsten seiner vier Söhne reagierte er zwiespältig. Bei der Leichenschau verhüllte er mit deutlichen Anzeichen des Schmerzes sein Gesicht, merkte im Hinausgehen jedoch an, es habe wohl leider so kommen müssen, er wisse nur nicht, wodurch er diese Strafe Gottes verdient habe.

Der Vorschrift gemäß wurde der Leichnam alsbald bestattet. Mit Rücksicht auf den tadellosen Ruf der Familie erklärte die Behörde Wilhelms Tod für einen Unfall, obwohl der Fund eines Liebesbriefes in seiner Rocktasche auf Selbstmord deutete. Einen ehrgeizigen jungen Polizisten, der sich erbot, den Griff des Messers nach einem unlängst in Dresden neu eingeführten Verfahren auf Fingerabdrücke zu untersuchen, wies der Vater ab. Die allfällige Täterschaft eines Dritten mittels einer solchen neumodischen „Daktyloskopie“ feststellen zu wollen, sei unnötig, das mache seinen Sohn nicht wieder lebendig. Der alte Mothes gab also den Dolch seinem unglücklichen Sohn mit ins Grab, äußerte dabei den Wunsch, dass seine beiden ältesten, die beim Preußischen Heer dienten, sowie Kurt Georg, der als ein tüchtiger Waffenschmied bei Richard Bornmüller & Co. angestellt war, ihr Leben glücklicher und in Ehren zubringen mögen.

Weder die im „Lauterberger Boten“ veröffentlichte Stellungnahme der Behörden noch Ermahnungen von der Kanzel und in Schulen verhinderten gleichwohl, dass der Volksmund den Porphyrquader am Domberg fortan „Willmothsfelsen“ nannte; wie manch anderen Platz im Städtchen umrankten ihn Schauergeschichten. Willys Sturz sei ein Kampf mit einem Rivalen wegen der rothaarigen Sophie vorausgegangen, hieß es, und das Mädchen wurde fortan mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Junge Männer sahen in ihr die Beute – womöglich angreifbar, weil von zweifelhaftem Ruf – oder die hexenhafte Verführerin. Sie zu unterwerfen stachelte Gelüste um so heftiger, als Sophie selbstbewusst ihrer Wege ging, auf Komplimente wie Zudringlichkeiten gar nicht oder mit bissigem Kommentar reagierte. Ihre Altersgenossinnen zischelten hinter ihrem Rücken, teils aus Neid, teils aus Bewunderung; ihr letztes Schuljahr erlebte sie als Mittelpunkt und Außenseiterin des Pausenhofes zugleich. Selten gesellten sich Mitschülerinnen ihr zu, einzig „Lissy Einhand“ war stets an ihrer Seite, und das nährte Klatsch und Tratsch im Städtchen bis zum Frühjahr 1906 mit immer neuen Gerüchten.

Wie es beginnt

Veröffentlicht: 17. August 2016 von publizist in Literatur, Psychologie, Roman, Zukunft
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Ein Sozialwissenschaftler auf einer Vortragsreise. Eintauchen in die Vergangenheit, die nicht vergeht.

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„Wären wir nur durch den verfluchten Tunnel“, flüsterte die alte Frau und umklammerte die Krücke. Der Stock klemmte zwischen ihren Beinen, krümmte sich zwischen gefalteten Händen unterm Kinn, darüber kaum geöffnet schmale Lippen, schmal auch die Stimme: Als schnitte Papier tonlose Beschwörungen aus ihrem Atem zischte, hechelte, keuchte, raschelte und pfiff das fort und fort. „Das elende Loch. Die Mörderhöhle. Alles verwest, erstickt, verfickte Grube.“

Jonas saß wenige Sitze entfernt mit dem Rücken zur Fahrt, sah das Gesicht der Greisin, von einer Lehne halb verdeckt, sich spiegeln in der Scheibe des Busses. Blass wanderten die Farben der Landschaft durch das plissierte Grau, und – Spiegel im Spiegel – reflektierten die Brillengläser der Alten alles noch einmal, als käme nichts vom Fleck, als sei Bewegung nur Schein, hin und her wabernde Schemen. Ihm wurde unheimlich. Das war natürlich blöd. Delirierende Alte waren zwar kein erfreulicher Anblick, aber gewiss nicht zum Fürchten. Trotzdem empfand er die Faltenlandschaft in fahler Haut, die senkrechte Furche über der Nasenwurzel – ‚ängstliche Willensanspannung‘, dachte er – die kalten Augen hinter Gläsern, den Mund mit den herabgezogenen Winkeln, mehr noch das reglose, formelhafte Selbstgespräch als bedrohlich. (…)

„Sie hatte einen ganz blutigen Kopf“, raunte die Niednerin, zog ein Laken aus dem Waschtrog, schinderte es zwischen Bürste und Waschbrett. „Sie will’s mit einem Lappen verstecken, aber ich habe die Flecken gesehen, braun und schwarz verkrustet. Sie war’s, das steht fest!“

Das Kind saß auf dem Rand einer Wanne und betrachtete seine Zehen. Die Schmutzränder zerliefen wie Wasserfarben. Seltsame Muster neben den Nägeln. „Die Alte vom Plan war die schwarze Katze?“

„Woher soll sie sonst die Beulen haben? Der Semmler hat seinen Hammer nach ihr geworfen, sie hatte das Kind aus der Wiege schon in den Krallen. Wie am Spieß hat’s geschrieen.“

„Und die Semmlerin?“

„Ohnmächtig vor Angst. Fass mit an, auswringen.“

Sophie balancierte über die Sandsteinblöcke am Boden. Konnte eine Katze einen Säugling entführen? Doch nur, wenn Hexerei im Spiel war. Der Teufel. Die Alte vom Plan musste besessen sein, eine Teufelshure. Sophie umklammerte die Lakenwurst, deren Ende ihr die Pflegemutter hinstreckte, Lauge troff heraus. „Bist kräftig geworden, Sophie. Und hübsch. Pass nur auf dich auf. Lass dir nicht den Kopf verdrehen von Schmeichelreden. Männer und Kuppelweiber, die warten nur drauf, so ein junges Ding wie dich zu verderben. Sie schwatzen dir dein Kränzlein ab, dann landest du in der Gosse.“

Die Dreizehnjährige kicherte. Was sie alle mit dem Kränzlein hatten. Sie schaute dem schaumigen Rinnsal nach, das zwischen den Steinen hinauslief zum Fluss. Ein bisschen dunkler als Pipi war das. Der Nachbarsjunge hatte hinter ihr gestanden, als sie sich in der Waschküche erleichterte, war ihr wahrscheinlich nachgeschlichen, das Ekel. „Lass mich sehen“, hatte er gestammelt, „ich will nur wissen, ob du wirklich keinen Pimmel hast.“

Kiesel

Veröffentlicht: 23. April 2016 von publizist in Literatur, Lyrik, Poesie, Psychologie, Zukuinft
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Erschienst du mir ein wenig blass am Morgen?

Und strahltest nachts, mein Stern, in jedem Licht.

Warst du nur müde? Hieltest du verborgen

Ein schattiges Gespinst aus deinen Sorgen?

Die Sonne zeigt: du zeigtest sie mir nicht.

War ich es selbst, der deine Mienen trübte?

Zog ich die Folie über deinen Glanz?

Dein Wort war zögerlich, dein Blick Distanz.

Dein Kuss blieb stumm – du gabst ihn mir nicht ganz.

Dieweil ich mich in süßem Reden übte.

Du bist schon fort, eh’ ich mich’s recht versehen.

Versäumte ich, dein Bleiben zu erflehen?

War dir der Abschied leicht? Du bliebst nicht stehen

Und winktest kaum zurück. Ich blieb allein.

So macht aus Sonne und Vulkan das Meer den Stein.

Entzweites Erzählen

Veröffentlicht: 10. Januar 2016 von publizist in Allgemein, Literatur, Poesie, Psychologie, Roman
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Fühlst du dich, fühl ich mich nicht

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Vergänglich: Blüten und Blütenträume

Deine Fabel ist vollkommen. Sie muss es sein, sonst rettet sie nicht dein Leben.
Oder was davon? Wer bedrohte es? Dein Leben – oder welchen Teil davon? Den Körper? War da ein Vergewaltiger, der ihn sich unterwerfen wollte, Gewalt – Macht – Lust? Die Seele? Wer? Der Teufel will Seelen, drum schürt er die Angst: „Angst essen Seele auf“. Das ist ein Film von vielen, die du gesehen hast: Beängstigende Filme, komische Filme, zum Schreien komische. Haben Filme deine Seele aufgegessen? Bewegte Bilder in einer Welt, die in den Bildern verschwindet? Die Welt wird vollkommen digital. Du kannst dir jede vollkommene Fabel abzweigen, die dich sichert gegen die Angst des nicht Ausrechenbaren. Du kannst dir ein perfektes digitales Du für die Liebe abzweigen ¬¬- nur kein lebendiges Du.
Wir wollen nicht mehr reden, da alles Missverständnis ist, die Worte an Bildern kleben, Figuren, Popanzen, Ängsten. Sobald wir erzählen, entzweien wir uns, weil jeder seine Fabel hat, lebensrettend und also vollkommen, und vollkommen unvereinbar mit der Fabel des anderen. Wir können ja nicht eins sein, nicht einmal, wenn unsere Körper ineinander fließen und alle Lust Ewigkeit will, tiefe, tiefe Ewigkeit.
Weh spricht vergeh‘.
Es muss einer schuld am Schmerz sein, damit die Seele ihm gewachsen ist. So wachsen ja Seelen auf: Immer ist einer da, der schuld ist. Es darf nicht keiner da sein, der schuld ist, sonst ist die Fabel nicht vollkommen. Es fehlt der Grund,  die Ur-Sache. Ich bin schuld an deinem Schmerz. Ich bin die Ur-Sache deiner Fabel. Nur so wird sie perfekt. Und nur so wird sie vollkommen unvereinbar mit meiner Fabel. Denn meine Fabel kennt keine Schuld. Jedenfalls nicht meine.
Wenn sich Literatur vom Elend der erwartbaren Fabeln löst, nicht mehr Sieger und Verlierer, nicht mehr Täter und Opfer kennt, nicht mehr Gut und Böse, nur Irrende und Unvollkommene, wenn sie der Falle der Dichotomie entkommt, könnte sie heilen.

Schiffbruch

Veröffentlicht: 11. Mai 2015 von publizist in Literatur, Lyrik, Poesie, Psychologie, Zukunft
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William Turner "Der Schiffbruch"

William Turner "Der Schiffbruch”

Ist es wirklich schon soweit?
Muss ich schon die Segel streichen?
In den stillen Priel entweichen
Ferne jedem Sturm und Streit?
Ganz entfernt von Lust und Träumen
Fernweh, Rausch und Übermut
In gefühlsbefreiten Räumen
Ganz vergessen Schmerz und Wut?

Ja, mein Schiff ist leck geschlagen
Brüchig Falle, Reeps und Trossen
Alle Munition verschossen
Morsches Holz will nichts mehr tragen.
Muscheln bohrten sich in Spanten
Nur noch Tünche hält den Rest
Der Kommandobrücke fest.
Ratten pfeifen von den Wanten:
„Zeit dass du von Bord verschwindest
Abwrackst diesen mürben Kahn
Du bist nur ein alter Mann
Zeit, dass du dich überwindest!
Sag dich los vom Abenteuer
Nimm die müde Hand vom Steuer!
Was dich trieb mit allen Sinnen
Nach dem Rot der Frauenlippen
Nach kokettem Füßewippen
Nach des Körpers schönster Zierde
Nach dem hingegebenen Fallen
In den Abgrund der Begierde
Da die Augen sich verschließen
Alle Fasern nur genießen
Englische Gesänge schallen
Kannst du längst nicht mehr gewinnen!“

Also pfeift die Rattenschar
Und es gellt mir in den Ohren
Alles ist – so scheint’s – verloren
Was Mission der Reisen war.

Bleibt mir nach der letzten Fahrt
Nur, mein Schiffchen abzufackeln
Und beschämt ins Grab zu wackeln?
Nein, das ist nicht meine Art.
Mit den Steinen unterm Fuß
Will ich noch ein wenig weilen
Mich beim Wandern nicht beeilen
Träumend bis zum letzten Kuss.