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Anfang eines Unglücks

Veröffentlicht: 27. Juni 2018 von immosennewald in Kindheit, Literatur, Roman, Zukunft
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Blackberry flower 02

Schöne Blüte, süße Frucht, böse Stacheln

„Aua!“ Der trockne Brombeerzweig zwischen den Himbeeren war abgeknickt, in Elisabeths Haut steckte ein winziger Splitter. „Hilf mir, Schorsch, ich kriege den verdammten Dorn nicht heraus!“ Der Bruder schob sich durch die Sträucher.
„Das ist ein Stachel, kein Dorn“, dozierte er, „du darfst nicht reiben, sonst setzt er sich fest.“ Er griff die Hand der Zwölfjährigen, spreizte zielsicher die juckende Stelle ein wenig, glitschte einen haarfeinen schwarzen Spreißel heraus und lachte. „Zimperliese. Wenn du so weiter machst, kriegen wir den Eimer nie voll.“ Elisabeth verzog den Mund. Himbeeren und Heidelbeeren hatten ihn gefärbt, wenige bedeckten den Boden des Bechers um ihren Hals.
„Komm, drüben unterm Felsen sind kaum Brombeeren, da geht’s schneller. Vor allem, wenn du nicht alles wegfutterst. Mach’s wie ich: Zehn ins Töpfchen, eine ins Kröpfchen.“
„Fünf, alter Klugscheißer, du bist größer.“ Elisabeth war froh, aus der Julihitze in den Schatten des Felsens zu entwischen. Sie schwitzte, immerhin schützte der lange Rock ihre Beine vor Brennnesseln. Georg hatte ein paarmal die Luft durch die Zähne gezogen, wenn es ihn zwischen kurzer Lederhose und Kniestrümpfen erwischte, ‚zur Strafe fürs Klugscheißen‘, dachte Elisabeth schadenfroh. Es roch nach Sommer in den Buchen, knackend lief die Dürre unter ihren Füßen mit. Selten ließ sich ein Fink hören, die Balz war vorbei.
„Trink einen Schluck.“ Georg schraubte seine Feldflasche auf. Der Pfefferminztee war lauwarm, schmeckte etwas muffig, aber Elisabeths Durst half darüber hinweg. Sie hielt dem Bruder die Flasche hin, ein grünmetallener Brummer landete auf der Öffnung.
„Äks“, sagte Elisabeth, „was für eine eklige Schmeißfliege!“ Georg vertrieb sie mit einer Handbewegung und hob die Nase.
„Hier riecht ’s auch ganz verludert. Schlimmer als deine Fürze.“ Sie schlug nach ihm, er wich der kleinen Hand aus, kam auf dem Hang ins Rutschen, stolperte ein paar Meter hinunter, landete auf dem Hintern. Das war nun für das Schwesterlein ein Hauptspaß, sie schüttete sich aus. „Herrgottsakra“, hörte sie ihn rufen, und „bleib wo du bist!“ Aber da war sie schon leichtfüßig hinunter, stand neben dem Bruder, starrte mit offenem Mund auf den von zahllosen Schmeißfliegen umschwirrten, belagerten Kadaver.
„Das ist kein Tier. Das ist ein Toter“, brachte sie heraus. „Fressen den jetzt die Fliegen?“
„Nein. Die legen nur ihre Eier ab. Komm. Wir müssen erzählen, wo wir ihn gefunden haben.“