Mit ‘Liebe’ getaggte Beiträge

Der Operettenkomponist Heinrich Reinhardt um 1900

Der Operettenkomponist Heinrich Reinhardt um 1900

Rudolf Ochsenfurth gestand sich ein, dass er sich leidenschaftlich verliebt hatte, wieder einmal unglücklich, das musste sein Schicksal sein. All die „süßen Mädels“, deren Zuneigung er gewonnen, die er „gehabt“ hatte, waren Episoden geblieben, vergängliche Räusche, verblassende Erinnerungen an hübsche Gesichter, offene Schöße, Seufzer und Düfte, bisweilen Gerüche. Unwillkürlich summte er eine Melodie aus Heinrich Reinhardts Operette „Das süße Mädel“: „So g’wachsen wia’r a Bamerl im schönen Wienerwald…“: Ta tata, tata, tata; ta tata tata taaa… Ein Ohrwurm.

Freilich – so eine war die rote Sophie: jung, hübsch, zugänglich. Hier im Haus des Onkels wagte er nicht, mit ihr anzubandeln. Daheim in Wien wäre sie jagdbares Wild, ein allerliebstes Abenteuer. Aber „Augen wie zwei Sterne, so funkelnd hell und rein… ta tata tata taaa…“ hatte die andere, die Heilige mit der abgesägten Hand, die Unerreichbare. Immer waren unerreichbar, für die er entbrannte, nur anbeten durfte er sie, die Wiener Gesellschaft der Reichen und Schönen blieb ihm verschlossen. Dabei war Elisabeth nicht in deren Sinn schön, bestenfalls apart, von eigenem, rätselhaftem Charme. Seine Gedanken wanderten unfreiwillig zu jenem Moment, als der Chirurg sie mit Skalpell und Knochensäge verunstaltet hatte. Er sah das schmerzverzerrte, verzweifelte Gesicht des Mädchens nach dem Erwachen aus der Betäubung, sah ihre Tränen – und das erregte ihn. Er stellte sich vor, wie sie den Blicken der anderen ausgesetzt war auf dem Schulhof, und wie er sie beschützen würde, erobern, wie er Retter und Ritter sein konnte, ehe sie sich ihm hingab. War er pervers?

Die rote Sophie sollte ihm mehr erzählen, sie kannte ihre Freundin und Dienstherrin von Kind an. Was für ein seltsames Verhältnis. Gewiss war da Neid. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht zuviel Vertraulichkeit nähren, die Alte musste er fernhalten. Schwierig. Aber war es das nicht wert?

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Englische Karikatur einer rittlings satt im Damensattel Reitenden (ca. 1800)

Englische Karikatur einer rittlings statt im Damensattel Reitenden (ca. 1800)

Dass er mit Elisabeth allein würde ausreiten können, hätte sich Rudolf Ochsenfurth nicht im Traum vorgestellt. Es fiel ihm einfach zu. Albert schlug vor, sein Neffe möge die junge Frau begleiten, um ihn von der Behauptung zu überzeugen, sie sei nicht trotz, sondern wegen ihres Handicaps zu bewundern. Sie überraschte den Verliebten sogleich damit, dass sie sich in Reithosen in den Sattel schwang, nicht etwa in einen Damensattel, sondern in einen englischen, wie er sich seit einigen Jahren in der Dressur durchgesetzt hatte. Beide Pferde waren tadellos, aber Rudolf musste sich an Alberts Militärsattel gewöhnen, der zwar gut gepflegt, aber über 40 Jahre alt war.

Der Weg am Seeufer entlang war breit genug, sie konnten die Rösser Seit‘ an Seite bewegen. Rudolf ließ sich über die Schönheit des Ortes, die Vorzüge des ländlichen Lebens aus, was Elisabeth mit der Frage quittierte, ob und weshalb er lieber Großstädter sei.

„So sehr ich die Ruhe und Naturnähe eures Zuhauses schätze: Wien bietet einmal ganz anderen Komfort, wichtiger noch für mich: eine abwechslungsreiche, vielfältige Gesellschaft und Kultur, ohne die ich einginge wie eine Primel“, erwiderte jener lachend. „Aber von Lauterberg im nasskalten Thüringen hierher zwischen Hochgebirge und Seen umzusiedeln, ist schon ein Glück, nicht wahr? Zumal der Onkel dich auch noch mit nach Fiume und an den Gardasee nimmt, also hast du dich über Mangel an bunter Gesellschaft wohl kaum zu beklagen.“

Elisabeth schwieg eine Weile, entschloss sich dann, behutsam ihr Thema anzuschlagen: „Albert und ich sind sehr glücklich. Dank des familiären Vermögens können wir die Nachteile unserer Invalidität mit vielen Annehmlichkeiten ausgleichen. Sophie und ihre Muhme sorgen nicht nur fürs leibliche Wohl, auch manche Erinnerungen an die gesegnete Kindheit bleibt wach. Sie sind uns beiden eine große Hilfe. Sophie freilich, mit ihrem munteren, neugierigen Naturell, wird es hier mit der Zeit langweilig. Ihr fehlt passende Unterhaltung, die Dorfjugend erscheint ihr – nicht ganz zu Unrecht – fad. Sie mag nicht hochgebildet sein, aber in ihr steckt mehr als eine Dienstmagd oder Bäuerin. Könntest du dir vorstellen, uns behilflich zu sein, wenn wir für sie einen Weg in die Großstadt suchten?“

Krüppelhochzeit

Veröffentlicht: 27. November 2018 von immosennewald in Literatur, Psychologie, Roman
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Wappen eines k. u. k. Majors a.D.

Das Wappen eines Kriegshelden

Die Sonne ist schon südlich, der See glänzt, rings um den Ort leuchten grüne Matten. Direkt am Ufer, durch locker gepflanzte Bäume und Hecken gegen Sicht von der Straße geschützt, hat Major a. D. Albert von Giebler-Türkenfels sein Haus bauen lassen, eine Villa im italienischen Stil, mit schmiedeeisernen Verzierungen an Erkern und Balkonen unter weit vorspringendem Dach. In ländlicher Idylle erträgt der Veteran die Qualen seiner Verwundung aus den Balkankriegen. Jahrelang hat ihn seine erste Frau gepflegt, Ursula. Er hatte sich als Artillerieoffizier, sie sich als Krankenschwester auf Schlachtfeldern ausgezeichnet; der Kaiser persönlich hatte sie mit einem Orden geehrt, und die Leute im winzigen Rotau am See nannten sie schon bisweilen „Sankt Ursel“, denn sie betreute nicht nur den kranken Mann, sondern war mit Rat und Hilfe allen gegenüber freigiebig.
Albert war 44, als ihn am 19. August 1878 in der Schlacht von Sarajevo ein Schuss vom Pferd warf. Rippen brachen, sein eigener Degen durchbohrte den Kiefer. Im Lazarett wurde eine Rippe entfernt, Brüche mit silbernen Röhren ummantelt, damit sie halbwegs gerade zusammenwuchsen; die Wunde im Gaumen schloss sich nie mehr ganz, er konnte nur mit Mühe speziell für ihn Zubereitetes essen.
Elisabeth, Sophie und die Niednerin hatten auf der langen Reise per Bahn und Pferdekutsche von der Kommerzienrätin einiges über das Los des reichen Verwandten erfahren. Ursula war 1903 gestorben, die Ehe kinderlos geblieben. Die Familie hatte Alberts Vorschlag einer „Versorgungsehe“ mit der Nichte zweiten Grades zugestimmt. Elisabeth sollte den alten Herrn pflegen, ihn auf Reisen ins kroatische Ferienhaus oder an den Gardasee begleiten und den Haushalt führen, sie würde seine Erbin sein, das Vermögen – von dem ein beachtlicher Teil aus Ursulas Mitgift stammte – bliebe so in der Familie. Die Niednerin und ihre Tochter Sophie sollten zunächst für eine Probezeit als Hausangestellte dienen, hatten die Aussicht, dies in wechselseitigem Einvernehmen auch für längere Zeit zu tun…

Sommertag am Seeufer

Das Lächeln aus der Tiefe

Es verschlug den Frauen den Atem, kaum dass sie der Kutsche entstiegen waren. Haus und Garten am See inmitten der Berge erschienen ihnen paradiesisch; sie folgten dem Bediensteten, nachdem der gemeinsam mit dem Kutscher das Gepäck abgeladen und den leichteren Teil geschultert hatte. Vor der Haustür erwartete sie, auf einen Krückstock gestützt, Albert, der Invalide. Die Nachmittagssonne leuchtete in schütterem weißen Haar, er hielt sich gerade und lächelte ihnen zu…
Die Zeit jagte Elisabeth voran, sie lernte und arbeitete, kaum dass sie zur Besinnung kam, erstaunte alle mit Tempo und Geschick, ungeachtet ihres Handicaps. Die Hochzeit im Frühling des folgenden Jahres wurde zum Dorffest, der alte Mann und die einhändige jugendliche Frau waren hoch angesehen bei allen, die Umgang mit ihnen hatten. Auf St. Ursula folgte die Hl. Elisabeth. Sophie und die Niednerin hingegen blieben Fremde im Ort. Allerlei Gerüchte hefteten sich ihnen an – dass Sophie uneheliches Kind eines Adligen sei, beide wegen unehrenhaften Wandels aus Deutschland haben wegziehen müssen, die Niednerin insgeheim Hexenwerk triebe.

Kiesel

Veröffentlicht: 23. April 2016 von publizist in Literatur, Lyrik, Poesie, Psychologie, Zukuinft
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Erschienst du mir ein wenig blass am Morgen?

Und strahltest nachts, mein Stern, in jedem Licht.

Warst du nur müde? Hieltest du verborgen

Ein schattiges Gespinst aus deinen Sorgen?

Die Sonne zeigt: du zeigtest sie mir nicht.

War ich es selbst, der deine Mienen trübte?

Zog ich die Folie über deinen Glanz?

Dein Wort war zögerlich, dein Blick Distanz.

Dein Kuss blieb stumm – du gabst ihn mir nicht ganz.

Dieweil ich mich in süßem Reden übte.

Du bist schon fort, eh’ ich mich’s recht versehen.

Versäumte ich, dein Bleiben zu erflehen?

War dir der Abschied leicht? Du bliebst nicht stehen

Und winktest kaum zurück. Ich blieb allein.

So macht aus Sonne und Vulkan das Meer den Stein.

Entzweites Erzählen

Veröffentlicht: 10. Januar 2016 von publizist in Allgemein, Literatur, Poesie, Psychologie, Roman
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Fühlst du dich, fühl ich mich nicht

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Vergänglich: Blüten und Blütenträume

Deine Fabel ist vollkommen. Sie muss es sein, sonst rettet sie nicht dein Leben.
Oder was davon? Wer bedrohte es? Dein Leben – oder welchen Teil davon? Den Körper? War da ein Vergewaltiger, der ihn sich unterwerfen wollte, Gewalt – Macht – Lust? Die Seele? Wer? Der Teufel will Seelen, drum schürt er die Angst: „Angst essen Seele auf“. Das ist ein Film von vielen, die du gesehen hast: Beängstigende Filme, komische Filme, zum Schreien komische. Haben Filme deine Seele aufgegessen? Bewegte Bilder in einer Welt, die in den Bildern verschwindet? Die Welt wird vollkommen digital. Du kannst dir jede vollkommene Fabel abzweigen, die dich sichert gegen die Angst des nicht Ausrechenbaren. Du kannst dir ein perfektes digitales Du für die Liebe abzweigen ¬¬- nur kein lebendiges Du.
Wir wollen nicht mehr reden, da alles Missverständnis ist, die Worte an Bildern kleben, Figuren, Popanzen, Ängsten. Sobald wir erzählen, entzweien wir uns, weil jeder seine Fabel hat, lebensrettend und also vollkommen, und vollkommen unvereinbar mit der Fabel des anderen. Wir können ja nicht eins sein, nicht einmal, wenn unsere Körper ineinander fließen und alle Lust Ewigkeit will, tiefe, tiefe Ewigkeit.
Weh spricht vergeh‘.
Es muss einer schuld am Schmerz sein, damit die Seele ihm gewachsen ist. So wachsen ja Seelen auf: Immer ist einer da, der schuld ist. Es darf nicht keiner da sein, der schuld ist, sonst ist die Fabel nicht vollkommen. Es fehlt der Grund,  die Ur-Sache. Ich bin schuld an deinem Schmerz. Ich bin die Ur-Sache deiner Fabel. Nur so wird sie perfekt. Und nur so wird sie vollkommen unvereinbar mit meiner Fabel. Denn meine Fabel kennt keine Schuld. Jedenfalls nicht meine.
Wenn sich Literatur vom Elend der erwartbaren Fabeln löst, nicht mehr Sieger und Verlierer, nicht mehr Täter und Opfer kennt, nicht mehr Gut und Böse, nur Irrende und Unvollkommene, wenn sie der Falle der Dichotomie entkommt, könnte sie heilen.

Sisyphus_by_von_StuckAlbert Camus hat dazu aufgefordert, sich den Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Diese Denkfigur haben viele Philosophen und andere Nachdenkliche aufgegriffen. Vermutlich ist alles darüber gesagt, ganz sicher nicht von allen. Mich interessiert die Geschichte weniger der Interpretation wegen, sondern wegen ihrer unstreitigen Modernität. Die Nachricht vom gewaltigen Volumen der Bundesagentur für Arbeit regte wieder einmal die Frage an, ob unsere Gesellschaft wirklich zum Ziel gesetzt hat, möglichst alle – ob sie wollen oder nicht – zumindest materiell sicherzustellen. Am besten als AnGestellte. Diese Existenzform kommt dem Bild des Sisyphos nahe: Es gibt eine Arbeit, die ihrem Wesen nach fremdbestimmt ist, d.h. sie schließt genau denjenigen davon aus, über ihr Ziel – ob Produkt oder Dienstleistung – zu entscheiden, der sie tut. Ob Mann oder Frau: Nicht die Strafe der Götter zwingt sie, sondern ein Vertrag, mit dem sie sich an Ziele binden, über die das Gestell entscheidet. Das können Unternehmen sein oder Behörden, Parteien oder NGO. Egal wo: Die Arbeit muss getan werden.

Glück speist sich dabei aus zwei Quellen:

  • Der Moment, in dem der Stein hinabrollt, Sisyphos mit sich allein ist. “Freizeit” nennt das der von Staat und Gesellschaft zugleich befürsorgte und ausgebeutete Angestellte. Heutzutage ist er darin nicht mit Stein und Berg allein, er kann sich dank der Medien vergewissern, wie schlimm die Welt jenseits seines Hügels und Steins ist, sich von anderen Steinerollern begeistern lassen, deren Gesichter ihn aus Werbeclips oder Siegerehrungen aller möglichen Wettbewerbe anstrahlen. Sollte er lieber nur in die Landschaft um den Berg schauen, könnte das heikel sein. 
  • Die Arbeit des Hinaufrollens selbst. Sie mag eintönig erscheinen, aber Sisyphos macht Erfahrungen: mit dem Stein, mit dem Berg, mit sich. Er lernt die Details kennen, findet optimale Wege, wird immer stärker und geschickter – lassen wir das Altern mal außen vor. Möglicherweise fühlt er sich den Siegern der Medienwelt ebenbürtig.

Verlassen wir hier das Bild vom einsamen Mann Sisyphos (oder seiner Schwester – nennen wir sie Sisyphina). Beide schieben Tag für Tag ihren Stein. Die moderne Arbeitswelt gesellt ihnen ein Team zu. Im Sozialismus hieß das Kollektiv. Automatisch geht das Steineschieben mit sozialen Interaktionen einher: Konkurrenzen um den besten Platz am Stein, den günstigsten Weg, seine Füße zu setzen, die beste Aussicht vom Berg. Sisyphina könnte sich verlieben, allerdings nicht unbeobachtet. Sogar echte Zusammenarbeit wäre vorstellbar. Die Leute müssen sich allerdings irgendwann darüber verständigen, was am Ende des Tages wichtig ist: Der Vergleich mit anderen Steinerollern oder der gemeinsame Blick vom Berg, der Fragen aufwerfen könnte, auf die es keine Antwort gibt. An genau diesem Punkt scheiden sich Kollektive – oder Teams – von Freundschaften, Liebe und Vertrauen vom “Geschäft des Lebens”.

Auch deshalb ist der Mythos unsterblich.