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Wie es beginnt

Veröffentlicht: 17. August 2016 von publizist in Literatur, Psychologie, Roman, Zukunft
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Ein Sozialwissenschaftler auf einer Vortragsreise. Eintauchen in die Vergangenheit, die nicht vergeht.

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„Wären wir nur durch den verfluchten Tunnel“, flüsterte die alte Frau und umklammerte die Krücke. Der Stock klemmte zwischen ihren Beinen, krümmte sich zwischen gefalteten Händen unterm Kinn, darüber kaum geöffnet schmale Lippen, schmal auch die Stimme: Als schnitte Papier tonlose Beschwörungen aus ihrem Atem zischte, hechelte, keuchte, raschelte und pfiff das fort und fort. „Das elende Loch. Die Mörderhöhle. Alles verwest, erstickt, verfickte Grube.“

Jonas saß wenige Sitze entfernt mit dem Rücken zur Fahrt, sah das Gesicht der Greisin, von einer Lehne halb verdeckt, sich spiegeln in der Scheibe des Busses. Blass wanderten die Farben der Landschaft durch das plissierte Grau, und – Spiegel im Spiegel – reflektierten die Brillengläser der Alten alles noch einmal, als käme nichts vom Fleck, als sei Bewegung nur Schein, hin und her wabernde Schemen. Ihm wurde unheimlich. Das war natürlich blöd. Delirierende Alte waren zwar kein erfreulicher Anblick, aber gewiss nicht zum Fürchten. Trotzdem empfand er die Faltenlandschaft in fahler Haut, die senkrechte Furche über der Nasenwurzel – ‚ängstliche Willensanspannung‘, dachte er – die kalten Augen hinter Gläsern, den Mund mit den herabgezogenen Winkeln, mehr noch das reglose, formelhafte Selbstgespräch als bedrohlich. (…)

„Sie hatte einen ganz blutigen Kopf“, raunte die Niednerin, zog ein Laken aus dem Waschtrog, schinderte es zwischen Bürste und Waschbrett. „Sie will’s mit einem Lappen verstecken, aber ich habe die Flecken gesehen, braun und schwarz verkrustet. Sie war’s, das steht fest!“

Das Kind saß auf dem Rand einer Wanne und betrachtete seine Zehen. Die Schmutzränder zerliefen wie Wasserfarben. Seltsame Muster neben den Nägeln. „Die Alte vom Plan war die schwarze Katze?“

„Woher soll sie sonst die Beulen haben? Der Semmler hat seinen Hammer nach ihr geworfen, sie hatte das Kind aus der Wiege schon in den Krallen. Wie am Spieß hat’s geschrieen.“

„Und die Semmlerin?“

„Ohnmächtig vor Angst. Fass mit an, auswringen.“

Sophie balancierte über die Sandsteinblöcke am Boden. Konnte eine Katze einen Säugling entführen? Doch nur, wenn Hexerei im Spiel war. Der Teufel. Die Alte vom Plan musste besessen sein, eine Teufelshure. Sophie umklammerte die Lakenwurst, deren Ende ihr die Pflegemutter hinstreckte, Lauge troff heraus. „Bist kräftig geworden, Sophie. Und hübsch. Pass nur auf dich auf. Lass dir nicht den Kopf verdrehen von Schmeichelreden. Männer und Kuppelweiber, die warten nur drauf, so ein junges Ding wie dich zu verderben. Sie schwatzen dir dein Kränzlein ab, dann landest du in der Gosse.“

Die Dreizehnjährige kicherte. Was sie alle mit dem Kränzlein hatten. Sie schaute dem schaumigen Rinnsal nach, das zwischen den Steinen hinauslief zum Fluss. Ein bisschen dunkler als Pipi war das. Der Nachbarsjunge hatte hinter ihr gestanden, als sie sich in der Waschküche erleichterte, war ihr wahrscheinlich nachgeschlichen, das Ekel. „Lass mich sehen“, hatte er gestammelt, „ich will nur wissen, ob du wirklich keinen Pimmel hast.“