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Komaträume

Veröffentlicht: 29. November 2018 von publizist in Literatur, Poesie, Psychologie, Roman, Wissenschaft, Zukunft
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FolterTheresiana-Hochziehen_cutDie Eingangshalle des Schulgebäudes erinnert an die Krypta eines gotischen Kirchenbaus. Aus wuchtigen, drei Meter hohen Pfeilern schwingt die Decke in ein Kreuzgewölbe, links und rechts öffnen sich Treppenhäuser zu den vier Obergeschossen. In der ersten Etage sind Lehrer- und Direktorenzimmer, dort hinauf schwebt er jetzt, denn er muss seine Feldstudie über soziales Lernen auf Pausenhöfen und Korridoren vom Kollegium genehmigen lassen. Stimmt es zu, darf er zwischen Schulstunden, in versteckten Winkeln, überall wo mit zusammengesteckten Köpfen geflüstert wird, wenn Lehrer nicht hinsehen, Material sammeln. Er wird beschreiben und analysieren, wie Kinder jenseits pädagogischer Mühewaltung Verhaltensmuster einüben, wie sie Rollen aushandeln und durchsetzen, wie sie sich gegenseitig bewerten, bewundern oder schmähen, Grenzen testen, sich unterwerfen oder dominieren.

Das Licht aus den hohen Fenstern scheint durch ihn hindurch, er fühlt sich beschwingt. Sie werden ihn grillen, aber er kann alle Fragebogen fertig vorlegen, amtlich befürwortet: Forschung fürs Gemeinwohl. Auch ans Audiovisuelle ist gedacht: Zum Zwecke der Dokumentation und Evaluation wird er seine Kamera mitbringen dürfen. Persönlichkeitsrechte allerdings sind aufs Strengste zu wahren, kein Bild, kein Ton, kein Datenblatt darf ohne Einverständnis von Schule und Erziehungsberechtigten weitergegeben werden. Er hat an alles gedacht. Hat er?

Plötzlich ist ihm heiß, er hängt unter der Decke im Korridor des ersten Stocks, schaut auf dunkelbraune, beschilderte Türen, aufs vertraute Fliesenmuster, spürt, wie ihm unaufhaltsam die Kamera vom Rücken rutscht, greift nach dem Gurt, aber der schlüpft durch die Finger, ‚Nein!‘, schreit er, die Angst greift ihm in die Eingeweide, schon sieht er das teure Stück zerschellen, da fangen weiße Hände es auf, ein Gesicht hebt sich, ein blondes Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren starrt ihn offenen Mundes an, läuft schreiend weg. Er muss sie aufhalten, diese Göre, aber seine Beine sind aus Blei. Schon ist sie am Ende des Ganges, wo der Wald beginnt, ihm Zweige ins Gesicht greifen und ans Gemächt. Nur ein Zipfel ihres Rocks baumelt, er fasst ihn, eine Katzenpfote fährt Krallen aus, seine Hand blutet. ‚Verfluchte Hexe‘, denkt er, will es schreien‚ aber seine Lippen sind starr. Eine Hand greift in seinen Nacken, dann sitzt er vorm Kollegium.

‚Sie müssen sich schon erklären‘, sagt eine fette Grauhaarige, ‚ehe sie hier Hexen jagen. Patriarchat war gestern. Forschung jenseits von Gendergerechtigkeit und Klassenkampf ist unzulässig.‘

‚Freilich, das steht alles ganz klar in meinem Konzept. Haben sie es denn nicht gelesen?‘

‚Muss ich nicht. Ich sehe Ihnen an, dass Sie lügen. Schon wegen des Geschlechts. Sie sind ein Sexist.‘ Die Runde am langen Tisch beginnt zu murmeln. Jonas spürt feindselige Blicke, er schwebt wieder zur Decke, sieht wie das Kollegium Kaffeebecher ergreift, nach ihm schleudert, schmutzigbraune Brühe ergießt sich. Schon findet er sich zusammengekauert in einem verdreckten Plumpsklo, wischt verzweifelt Exkremente von Händen, Armen, Kleidung. Es stinkt. Eine Hand ist zwischen seinen Beinen.

„Was für einen Haufen Scheiße manche machen, nur mit Flüssigfutter.“ Die Stimme kommt ihm bekannt vor. Gekicher.

„Mit der Frau möchte ich nicht tauschen.“

„Sie könnte ihn bestimmt sterben lassen, aber sie traut sich nicht.“

„Die Ärzte auch nicht. So lange er schnauft, bringt er Geld.“

„Ist ja auch wegen der Wissenschaft.“

Zwischen den Beinen strammt sich ein trockenes Paket, Hände wälzen ihn um, ein schlürfender Schlauch senkt sich schmerzhaft in seinen Hals. Dunkel.