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Krüppelhochzeit

Veröffentlicht: 27. November 2018 von immosennewald in Literatur, Psychologie, Roman
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Wappen eines k. u. k. Majors a.D.

Das Wappen eines Kriegshelden

Die Sonne ist schon südlich, der See glänzt, rings um den Ort leuchten grüne Matten. Direkt am Ufer, durch locker gepflanzte Bäume und Hecken gegen Sicht von der Straße geschützt, hat Major a. D. Albert von Giebler-Türkenfels sein Haus bauen lassen, eine Villa im italienischen Stil, mit schmiedeeisernen Verzierungen an Erkern und Balkonen unter weit vorspringendem Dach. In ländlicher Idylle erträgt der Veteran die Qualen seiner Verwundung aus den Balkankriegen. Jahrelang hat ihn seine erste Frau gepflegt, Ursula. Er hatte sich als Artillerieoffizier, sie sich als Krankenschwester auf Schlachtfeldern ausgezeichnet; der Kaiser persönlich hatte sie mit einem Orden geehrt, und die Leute im winzigen Rotau am See nannten sie schon bisweilen „Sankt Ursel“, denn sie betreute nicht nur den kranken Mann, sondern war mit Rat und Hilfe allen gegenüber freigiebig.
Albert war 44, als ihn am 19. August 1878 in der Schlacht von Sarajevo ein Schuss vom Pferd warf. Rippen brachen, sein eigener Degen durchbohrte den Kiefer. Im Lazarett wurde eine Rippe entfernt, Brüche mit silbernen Röhren ummantelt, damit sie halbwegs gerade zusammenwuchsen; die Wunde im Gaumen schloss sich nie mehr ganz, er konnte nur mit Mühe speziell für ihn Zubereitetes essen.
Elisabeth, Sophie und die Niednerin hatten auf der langen Reise per Bahn und Pferdekutsche von der Kommerzienrätin einiges über das Los des reichen Verwandten erfahren. Ursula war 1903 gestorben, die Ehe kinderlos geblieben. Die Familie hatte Alberts Vorschlag einer „Versorgungsehe“ mit der Nichte zweiten Grades zugestimmt. Elisabeth sollte den alten Herrn pflegen, ihn auf Reisen ins kroatische Ferienhaus oder an den Gardasee begleiten und den Haushalt führen, sie würde seine Erbin sein, das Vermögen – von dem ein beachtlicher Teil aus Ursulas Mitgift stammte – bliebe so in der Familie. Die Niednerin und ihre Tochter Sophie sollten zunächst für eine Probezeit als Hausangestellte dienen, hatten die Aussicht, dies in wechselseitigem Einvernehmen auch für längere Zeit zu tun…

Sommertag am Seeufer

Das Lächeln aus der Tiefe

Es verschlug den Frauen den Atem, kaum dass sie der Kutsche entstiegen waren. Haus und Garten am See inmitten der Berge erschienen ihnen paradiesisch; sie folgten dem Bediensteten, nachdem der gemeinsam mit dem Kutscher das Gepäck abgeladen und den leichteren Teil geschultert hatte. Vor der Haustür erwartete sie, auf einen Krückstock gestützt, Albert, der Invalide. Die Nachmittagssonne leuchtete in schütterem weißen Haar, er hielt sich gerade und lächelte ihnen zu…
Die Zeit jagte Elisabeth voran, sie lernte und arbeitete, kaum dass sie zur Besinnung kam, erstaunte alle mit Tempo und Geschick, ungeachtet ihres Handicaps. Die Hochzeit im Frühling des folgenden Jahres wurde zum Dorffest, der alte Mann und die einhändige jugendliche Frau waren hoch angesehen bei allen, die Umgang mit ihnen hatten. Auf St. Ursula folgte die Hl. Elisabeth. Sophie und die Niednerin hingegen blieben Fremde im Ort. Allerlei Gerüchte hefteten sich ihnen an – dass Sophie uneheliches Kind eines Adligen sei, beide wegen unehrenhaften Wandels aus Deutschland haben wegziehen müssen, die Niednerin insgeheim Hexenwerk triebe.

William James Herschel, Enkel des berühmten Komponisten und Astronomen, nutzte in Indien als Kolonialbeamter seit 1858 Fingerprints, um Dokumente zu sichern. In Argentinien wurde 1892 erstmals eine Frau anhand ihrer Fingerabdrücke als Mörderin überführt. 1903 wandte ein sächsischer Kriminalbeamter daktyloskopische Methoden erstmals in Deutschland an. Im September 1904 kommt in Lauterberg ein junger Mann auf seltsame Art zu Tode – und ein junger Polizist würde sich gern einen Namen bei der Aufklärung machen, aber intelligentere Frauen hinterlassen keine Fingerabdrücke, wenn sie töten.

„Was war mit dem jungen Mothes? Hast du Luder ihm schöne Augen gemacht?“
„Welcher Mothes?“
„Stell dich nicht dumm. Der Mothes Willi aus der Rüsse.“ Die Niednerin hatte die Stimme erhoben, Sophies Augen wanderten über den Tisch, sie griff nach einem Kanten, obwohl sie längst satt war von Schmalzbrot und Fassgurken, dazu seit Wochen zum Vesper nichts anderes gesehen hatte.
„Wieso sollte ich mich mit dem abgeben, diesem stinkenden Bock? Er ist hinter jedem Weibsbild her.“
„Er hat einen Brief an dich geschrieben.“
„Ich habe keinen bekommen.“ Sophie biss ab, mampfte mit Nachdruck. Die Tante stützte die Unterarme auf den Tisch, beugte sich weit hinüber, suchte ihre Augen.
„Freilich nicht, er liegt ja bei der Polizei. Und du weißt sehr gut, wie der Mothes Willi gestorben ist, schon weil die Lisbeth ihn gefunden hat. Was soll das unschuldige Getue? Was war mit dir und Mothes?“
„Er hat mir halt nachgestellt, ich habe ihn abblitzen lassen. Weiß ich, wem er alles Briefe schreibt…geschrieben hat.“

Die Tante schlug mit der Hand auf den Tisch. „Da hör einer die Frechheit! ‚Mich flieht der Schlaf jede Nacht, denk‘ ich nur der feuerroten Haare meiner Sophie‘, das steht da geschrieben, so hat es mir Lehrer Riebeseel von der Mühltorschule berichtet. Die Polizei hat nach der rothaarigen Sophie gefragt, er hat ‘s mir insgeheim erzählt. Und weiter: dass der Mothes kaum einen geraden Satz schreiben konnte, an dem Brief sei eigentlich nur die Unterschrift von ihm gewesen, das Ganze aber wie abgeschrieben: ‚Ich will nicht mehr leben, kann ich dir, meine über alles Geliebte, nicht nahe sein!‘ Wie kommt ein Depp, der ‚hinter jedem Weibsbild her‘ sein soll, auf derart romantischen Schwulst?“

Sophie sprang auf und blitzte ihre Tante an: „Und wie kommst du dazu, mich zu verdächtigen? Ein jeder Bösewicht, jede Hure könnte sich mit einem dreckigen Mothes dazu verstehen, mir etwas Übles anzuhängen! Gerade weil er nicht ans Ziel kam! ‚Brütet nur im Nest der Neid, falsch Zeugnis schlüpft nach jeder Seit‘‘ – ist das nicht einer deiner Sprüche? Ich kenne ein Dutzend Leute, die mich gern am Pranger sähen, aber du suchst das Übel lieber bei mir!“ Sie riss Mantel und Schal vom Haken, knallte die Tür hinter sich zu. Die Niednerin seufzte. „Wenn ‘s doch nur so wäre. Wenn wenigstens Gras über die Geschichte wüchse und der Mothes Willi seinen Frieden fände.“

Bei der Polizeibehörde der Kreisstadt hatte man sich lange nicht einigen können, wie der Fall Wihelm Mothes zu bewerten war. Der Achtzehnjährige wies gleich zwei tödliche Verletzungen auf: Das Genick war durch den Sturz vom Felsen am Domberg gebrochen, in seiner Brust steckte obendrein ein Ehrendolch des Thüringischen Husaren-Regiments Nr. 12. Wilhelms Vater hatte dort gedient, war wegen besonderen Mutes in der Schlacht bei Königgrätz ausgezeichnet worden. Den Dolch hatte er als den seinen erkannt. Auf den Tod des jüngsten seiner vier Söhne reagierte er zwiespältig. Bei der Leichenschau verhüllte er mit deutlichen Anzeichen des Schmerzes sein Gesicht, merkte im Hinausgehen jedoch an, es habe wohl leider so kommen müssen, er wisse nur nicht, wodurch er diese Strafe Gottes verdient habe.

Der Vorschrift gemäß wurde der Leichnam alsbald bestattet. Mit Rücksicht auf den tadellosen Ruf der Familie erklärte die Behörde Wilhelms Tod für einen Unfall, obwohl der Fund eines Liebesbriefes in seiner Rocktasche auf Selbstmord deutete. Einen ehrgeizigen jungen Polizisten, der sich erbot, den Griff des Messers nach einem unlängst in Dresden neu eingeführten Verfahren auf Fingerabdrücke zu untersuchen, wies der Vater ab. Die allfällige Täterschaft eines Dritten mittels einer solchen neumodischen „Daktyloskopie“ feststellen zu wollen, sei unnötig, das mache seinen Sohn nicht wieder lebendig. Der alte Mothes gab also den Dolch seinem unglücklichen Sohn mit ins Grab, äußerte dabei den Wunsch, dass seine beiden ältesten, die beim Preußischen Heer dienten, sowie Kurt Georg, der als ein tüchtiger Waffenschmied bei Richard Bornmüller & Co. angestellt war, ihr Leben glücklicher und in Ehren zubringen mögen.

Weder die im „Lauterberger Boten“ veröffentlichte Stellungnahme der Behörden noch Ermahnungen von der Kanzel und in Schulen verhinderten gleichwohl, dass der Volksmund den Porphyrquader am Domberg fortan „Willmothsfelsen“ nannte; wie manch anderen Platz im Städtchen umrankten ihn Schauergeschichten. Willys Sturz sei ein Kampf mit einem Rivalen wegen der rothaarigen Sophie vorausgegangen, hieß es, und das Mädchen wurde fortan mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Junge Männer sahen in ihr die Beute – womöglich angreifbar, weil von zweifelhaftem Ruf – oder die hexenhafte Verführerin. Sie zu unterwerfen stachelte Gelüste um so heftiger, als Sophie selbstbewusst ihrer Wege ging, auf Komplimente wie Zudringlichkeiten gar nicht oder mit bissigem Kommentar reagierte. Ihre Altersgenossinnen zischelten hinter ihrem Rücken, teils aus Neid, teils aus Bewunderung; ihr letztes Schuljahr erlebte sie als Mittelpunkt und Außenseiterin des Pausenhofes zugleich. Selten gesellten sich Mitschülerinnen ihr zu, einzig „Lissy Einhand“ war stets an ihrer Seite, und das nährte Klatsch und Tratsch im Städtchen bis zum Frühjahr 1906 mit immer neuen Gerüchten.